
Der Markt soll mit freien Preisen Effizienz und freie Wahlmöglichkeiten schaffen. Der Staat mit (progressiven) Steuern und Transferleistungen soziale Gerechtigkeit sichern. Dieses Konzept der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard taugt nicht mehr für unsere heutige Zeit. Ein Alternativvorschlag.
Kinder entwickeln schon sehr früh einen natürlichen Gerechtigkeitssinn, der sie befähigt, Konflikte selbst zu lösen. Kein Wunder, dass John Rawls, der zentrale Vordenker der zeitgenössischen politischen Philosophie, auf der gesellschaftlichen Ebene Gerechtigkeit als die zentrale Tugend politischer Institutionen bezeichnet. Und ebenso kein Wunder, dass sich angesichts der stark zunehmenden Ungleichheit fast überall auf der Welt Unmut und Widerstand regt. Und schließlich kein Wunder, dass angesichts der Tatenlosigkeit der politischen Entscheidungsträger, diese Entwicklung viele Menschen in die Hände von Rechtspopulisten treibt.
Was sollen wir tun? Alfred Müller Armack, Staatssekretär unter Ludwig Erhard hat in seinem 1947 erschienen Buch, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft eine Lösung vorgeschlagen, die zum Kerngedanken der sozialen Marktwirtschaft werden sollte: Er forderte eine absolute Funktionsteilung zwischen der Aufgabe des Marktes und des Staates. Der Markt soll mit freien Preisen Effizienz und freie Wahlmöglichkeiten schaffen. Der Staat mit (progressiven) Steuern und Transferleistungen soziale Gerechtigkeit sichern.
Meine zentrale These lautet, dass dieses arbeitsteilige Modell der sozialen Marktwirtschaft in der heutigen Zeit zu kurz springt und sich nicht für den sozialen und ökologischen Umbau eignet, weil
- erstens soziale Marktwirtschaft, die sich nur auf Steuern und Transfers verlässt, Ungleichheit nur höchst begrenzt kompensieren kann. Wenn wir damit einen Minimal-Standard deutlich über der Armutsgrenze garantieren wollten, wären Steuersätze erforderlich, die derart hoch sind, dass sie erhebliche Auswirkungen auf Anreiz- Effekte und Allokation von Ressourcen hätten. Damit würde die idealisierte Aufgabenteilung zwischen Markt und Staat in sich zusammenbrechen.
- zweitens lediglich Symptome behandelt werden statt Ursachen abzustellen. Wir sollten den allzu ideologischen Allmacht-Glaube an die Weisheit von Preisen und Märkten beiseite legen und gezielt nach den eigentlichen Ursachen für Ungerechtigkeit fragen und diese beseitigen wo auch immer sie auftreten.
- Drittens lässt sich die Abschaffung von unfairen Praktiken besser begründen und damit leichter breite gesellschaftliche Mehrheiten überzeugen als mit einem Zahlenstreit um Steuersätze, Freibeträge oder Höchstgrenzen. Dieser endet im deutschen komplexen Rechts-System schnell im Patt. Viele Bürger*innen beurteilen Lohn und Gehalt oder Vermögenszuwachs viel mehr danach, ob er verdient ist durch Einsatz, Tüchtigkeit, Klugheit, möglicherweise sogar schieres Glück, aber insgesamt auf faire und legitime Art und Weise zustande gekommen ist als nach der rein rechnerischen Höhe. Bereicherung auf Kosten anderer dagegen ist für die allermeisten abstoßend und inakzeptabel.
Wie sollen wir uns den sozialen und ökologischen Umbau vorstellen, wie mehr Gerechtigkeit bekommen, wo liegen die Ursachen für Ungerechtigkeit?
- die bestehende Einkommensverteilung vor Steuern, die Primäreinkommen sind ungerecht verteilt.
- das extrem begrenzte verbleibende CO2 Budget droht ungerecht verteilt zu werden, zum Beispiel in den Bereichen Wohnen und Mobilität
- Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht in vielen sozialen Bereichen des täglichen Lebens, die den Menschen oft noch näher sind als das materielle Geld.
Ungerechtigkeit Primäreinkommen- Wert schaffen nicht Wert abschöpfen
Seit den frühen 80er Jahren hat sich die Aufteilung des volkswirtschaftlichen Gesamteinkommens stark verschoben auf (Kapital- ) Gewinne zu Lasten von Löhnen und Gehältern. Gleichzeitig flacht der volkswirtschaftliche Einkommenszuwachs (BIP Wachstum) seit Jahrzehnten immer stärker ab. Es ist zu befürchten, dass gesellschaftliche Verteilungskämpfe zwischen Arbeit und Kapital dadurch weiter angeheizt werden und das alte Versprechen von Ludwig Erhard: „Wohlstand für alle“ ausser Kraft gesetzt wird. Ein Beispiel ist der oft obsessiv verfolgte Indikator Aktienmarktindex. Börsenkurse sind nichts anderes als auf die Gegenwart kondensierte, erwartete künftige Kapitalgewinne. Überschiessende Börsenkurse gründen sich also immer mehr lediglich auf die Erwartung, dass Löhne und Gehälter kräftig sinken werden. Der Aktienindex wird zu einem sehr einseitigen gesellschaftlichen Spaltungsindex.
Es muss im Interesse der Gerechtigkeit auf der Kapitalseite um so mehr darum gehen Praktiken, die Wert abschöpfen aber keinen Wert schaffen, systematisch abzustellen. Anders gesagt, wir müssen gegen zunehmendes „rent-seeking“ vorgehen. Stichworte: digitale Plattform-Monopolrenten, Bodenrenten-Spekulationen, Ungerechtfertigt hohe Pharma Patentrenten, Share Buy backs die Manager Boni leistungslos in die Höhe treiben, etliche Praktiken im Banken-Sektor etwa spekulative Exzesse im Devisenhandel etc.
Gleichzeitig muss im Interesse der Gerechtigkeit, Arbeit gestärkt und fairer entlohnt werden, insbesondere im Niedriglohnsektor und bei den seit vielen Jahren stagnierenden Reallöhnen. In diesem Sinne weisen die Beschlüsse der Grünen auf dem letzten Parteitag in Bielefeld in die richtige Richtung: Mindestlohn deutlich erhöhen, Stärkung der Gewerkschaften, Die Befolgung der Flächen-Tarifbindung als Vorbedingung für Unternehmen, bei denen der Staat einkaufen möchte.
Ungerechtigkeit bei der Verteilung des begrenzten CO2 Budgets
Überall auf der Welt wird als Königsweg zur Vermeidung einer Hitzekatastrophe ein CO2 Preis gefordert. Es ist völlig klar, dass diese Steuer für sich die Ärmeren relativ stärker trifft als die Reichen. Das allein macht Umverteilung noch dringlicher und in noch umfangreicherem Maß notwendig. Diese Erfahrung hat Macron in Frankreich mit dem Protest der Gelbwesten sehr deutlich gemacht. Gleichzeitig ist auch klar, dass wir eher mit zu niedrigen als zu hohen CO2 Preisen arbeiten. Das verbleibende CO2 Budget wird damit aber erst recht zu einem extrem knappen Gut.
Bei Märkten mit struktureller Angebotsknappheit funktioniert die Magie der „unsichtbaren Hand“ aber grundsätzlich sozial überhaupt nicht. Genau deshalb wurden während des zweiten Weltkriegs für viele lebensnotwendige Güter Preiskontrollen eingerichtet und die Verteilung der extrem knappen Gütern nach sozialen Kriterien staatlich geregelt und rationiert. (Zu den Grenzen von Märkten hat sich beispielsweise der Nobelpreisträgers James Tobin in einem berühmten Aufsatz von 1970 geäußert: On limiting the domain auf inequality). Staatliche Rationierung wäre für uns heute allerdings ein derartig drastischer Eingriff in Freiheit und Demokratie, dass wir Gefahr laufen würden, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir haben es also mit einem dreifachen Dilemma zu tun: Intakte Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Wahrung von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie sind nur sehr schwer gleichzeitig erfüllbar.
Wie schaffen wir es dann, dass der selbstbestimmte demokratische Kampf für die zukünftige Generation nicht zu einem sozialen Disaster heute wird? Mit Sicherheit nicht (oder nicht nur) mit der Karte „grüner Kapitalismus“. Wir brauchen Kooperation, wir brauchen einen stärkeren Staat. Wir brauchen staatliche Regeln, die mit ausreichendem Vorlauf braune Technik klar verbietet und die Konsequenzen sozial gerecht auffängt. Wir müssen gleichzeitig grüne Technik fördern, erfinden, bereitstellen und zwar alle, Markt und Staat. Um alle Bürger*innen mitzunehmen brauchen wir demokratisches Überzeugen, wir brauchen für jeden zugänglich und erschwingliche CO2 freie Angebote in viel größerem Umfang als bisher und Anreize zum Wechsel. Und, das wird sehr viel öffentliches Geld kosten. Siehe dazu mein Beitrag: Springbrunnen statt schwarze Null). Was heißt das etwas konkreter beispielsweise für Wohnen, Mobilität oder Ernährung?
Wohnen:
Die Unternehmensberatung The Boston Consulting Group (BCG) und Prognos haben vor 2 Jahren im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) eine Studie durchgeführt, die die Gesamtkosten des ökologischen Umbaus in Deutschland auf ca. 2 Trillionen Euro veranschlagt. Über die Hälfte also mit großem Abstand der größte Brocken davon ist für Wohnen und Bauen vorgesehen. Gleichzeitig erleben wir eine enorme Wohnungsknappheit und Mietpreis-Explosion in einigen Ballungszentren und die ersten Zeichen für die Bildung einer Immobilienblase. Der privatwirtschaftliche Wohnungsmarkt bedient gerade bei Knappheit gemäß der Logik der Gewinnmaximierung zuerst die Reichen, die Luxuswohnungen an den besten Standorten. Die Ärmeren bleiben außen vor, im schlimmsten Fall ohne Wohnung und schon gar nicht nach modernen ökologischen Kriterien gebaut oder renoviert.
Hier muss staatlich und gemeinschaftlich, genossenschaftlich gehandelt werden, mit sozialem Wohnungsbau mit hohen ökologischen Standards, mit Zuschüssen für geeignete Dächer oder Fassadenisolierung und Umrüstung auf fossil-freie Wärme samt Infrastruktur für alle, die sich das nicht leisten können oder für diejenigen, für die die Marktpreis-Signale die Investitionen nicht rechtfertigen.
Mobilität:
Die Grünen sagen Vermeiden, Vernetzen, Verlagern. Aber was sagen wir den Berufspendlern, die sich die teuren Wohnungen in den Städten nicht leisten können, aber ihren Arbeitsplatz dort haben und mit höheren Sprit-Preisen konfrontiert sind?
Jedenfalls nicht, dass wir das Pendeln so weitersubventionierten wollen wie bisher, wie im letzten Klimapaket der Bundesregierung. Eine wichtige Lösung ist Verlagerung auf den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Das erfordert hohe Investitionen in den Kapazitätsausbau und Anreize zur Nutzung. Die marktgläubige Devise dass sich der ÖPNV über die Nutzungsentgelte rechnen oder sogar Gewinne abwerfen muss, ist der falsche Weg. Selbst in der Schweiz wird der Regionalverkehr klar als abgeltungsberechtigt geführt und zugestanden, dass die Bahn ein Allgemeingut ist, das anders gesteuert werden muss als ein normales Unternehmen.
Der große schwedische Ökonom Knut Wicksell hat bereits 1897 auch ohne drohende Klimakatastrophe der preussischen Bahn Vorwürfe gemacht und empfohlen zum Wohle aller die Bahntarife auf die Grenzkosten abzusenken, also Preisen die den Kosten des letzten zusätzlichen Fahrgasts entsprechen:
der großartige Reingewinn der preussischen Staatsbahnen mag immerhinein glänzendes Zeugnis ablegen von der Tüchtigkeit der Verwaltung der betreffenden Unternehmung, sowie für das Emporblühen des industriellen und kommerziellen Lebens des Landes, allein zur selben Zeit ist er auch ein Zeichen dafür, dass der volkswirtschaftlich wie für jede Einzelwirtschaft günstigste Grad der Ausnutzung jener Tätigkeit noch lange nicht erreicht ist. Der Personen- und Güterverkehr auf den preussischen Staatsbahnen würde bei zweckmässiger Erniedrigung der Tarife wahrscheinlich um das Mehrfache, jedefalls aber um Beträchliches zunehmen. Alle würden dadurch gewinnen, keiner etwas zu verlieren brauchen, falls nur sonst der Ausfall an Reingewinn, bez. das entstehende Defizit in passender Weise durch Steuern gedeckt würde.
Knut Wicksell 1897, Finanztheoretische Untersuchungen S. 134
Wir müssen uns trennen vom beliebtesten heutigen Fortbewegungsmittel: dem fossil betriebenen Automobil. Hier werden in der deutschen Zulieferer-Industrie zumindest zeitweilig mehrere 100.000 Arbeitsplätze weg brechen Sozial gerecht und politisch machbar ist der Umbau nur, wenn diesen Menschen mit viel öffentlichem Geld geholfen wird, eine neue selbstbestimmte Perspektive aufzubauen. Unsere jetziges Sozialsystem wäre mit dieser Aufgabe völlig überfordert.
Ernährung: siehe mein Beitrag Planetary Health Diet
Ungerechtigkeit jenseits der engen Finanzkennzahlen Einkommen und Vermögen.
Es ist eine Anmassung von vielen Ökonom*innen, zu meinen, dass ungleiche Einkommen und Vermögen der ursächliche Dreh- und Angelpunkt für Ungleichheit oder Ungerechtigkeit in dieser Welt sind. Viele Menschen sorgen sich neben der Frage nach ausreichendem Einkommen und Arbeit, um Themen, die ihnen oft noch näher liegen: in die Brüche gehende Partnerschaften, schwierige Beziehungen zu den Kindern, Einsamkeit, psychische Probleme, Sinnfragen, Alkoholismus, Drogensucht, starkes Übergewicht, Krankheit, chronische Schmerzen etc.
Das Ehepaar Anne Case und Angus Deaton, Nobelpreisträger für Wirtschaft 2015 beide Ökonom*innen in Princeton haben in einer umfangreichen empirischen Studie nicht monetäre Ungleichheit untersucht. Und zwar in der Gruppe der weißen Amerikaner*innen. Seit dem zweiten Weltkrieg verschlimmert sich die nicht materielle Situation für alle Geburtsjahrgangs-Kohorten, die einen Ausbildungsgrad geringer als einen Bachelor haben: z.B. unstabile Beziehungen, Übergewicht, Tod durch Suizid, Drogenüberdosis, oder Leberzirrhose als Folge von übermässigem Alkohol-Konsum.
Besonders perfide ist die Entwicklung der wichtigsten Todesursache im erwerbstätigen Erwachsenen-Alter in den USA: Tod durch Drogenüberdosis, die Opioid Krise. Seit 2000 hat sie kumuliert mehr Todesopfer gefordert als Tote amerikanische Soldaten in den beiden Weltkriegen zusammen. Und der hauptursächliche Brandbeschleuniger für diese Krise ist ein von der Sackler Familie auf den Markt gebrachtes Schmerzmittel auf Opioid Basis: Oxycontin hat bisher einen Umsatz von über 50 Milliarden Dollar eingebracht. Es wurde nahezu schrankenlos als „Standard-Scherzmittel“ in den Markt gedrückt und an über 100 Millionen Amerikaner*innen verschrieben. Etliche sind dadurch drogensüchtig geworden. Die Hauptschuldigen in diesem Drama wurden zu allem Überfluss buchstäblich auch noch auf den Thron gehoben. Raymond Sackler 2015 von der englischen Queen für Philanthropie, mit er sich „reingewaschen“ hat. Und Tom Marino als neuer „drug tsar“ von Donald Trump. Tom Marino hat sich als Kongressabgeordneter für die Weiterführung der „Oxycontin Bonanza“ eingesetzt und ein Einschreiten gegen dieses Unwesen durch die Regulierungsbehörde DEA „erfolgreich“ unterbunden.
Insgesamt ist das amerikanische Gesundheitssystem in der westlichen Welt das mit Abstand erfolgreichste für Gewinne von Unternehmen und das mit Abstand schlechteste was Gesundheit angeht – wenn man Gesundheit in der Entwicklung der Lebenserwartung misst, die in den USA seit einigen Jahren sogar rückläufig ist. Legte man den Hebel um und senkte die Kosten des amerikanischen Gesundheits-Systems auf das Niveau des zweitteuersten Gesundheitssystems der Welt, nämlich das der Schweiz, könnte man eine Trillionen Dollar einsparen. Umgerechnet würde jede (r) m Amerikaner(in) jährlich einen Scheck von 8000 Dollar erhalten. Allein damit wäre rechnerisch das Problem des sozialen Minimums oder vorgeblich zu hohen Lohnnebenkosten gelöst.
Dieses letzte Beispiel zeigt besonders deutlich, wie dringlich es ist, tiefer in die Ursachenketten für Ungleichheit einzusteigen, wenn man Verbesserung herbeiführen will. Ein düsteres Bild. Aber Probleme, die alle lösbar wären, wenn wir Ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen würden. Auch bei uns sollten wir Unfairness in vielen Bereichen systematischer in den Blick nehmen und politisch angehen und das Problem der Ungleichheit nicht (nur) als Steuer- und Transferdebatte „framen“.
Schönen Gruß aus Berlin