
So wie das Bruttoinlandsprodukt keinen Unterschied macht zwischen Ressourcen verschwenden und Ressourcen einsparen, macht es mittlerweile auch zugespitzt gesagt, keinen Unterschied, ob es uns glücklicher oder unglücklicher macht. Es geht deshalb nicht nur darum, wie wir die Wirtschaft umbauen sollen oder müssen, sondern auch darum, wie wir sie umbauen wollen. Der Streit, ob grünes Wachstum angesichts von Rebound-Effekten je möglich sein wird, lässt sich möglicherweise auflösen, wenn wir die Wirtschaft nicht nur ökologisch umbauen, sondern gleichzeitig auf besseres Wohlbefinden statt auf Immer-Mehr ausrichten.
„Als ich klein war, glaubte ich, Geld sei das Wichtigste im Leben. Heute, da ich alt bin, weiß ich: Es stimmt.“
Oscar Wilde
„Dann, sagt der Fremde könnten sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen- und auf das herrliche Meer blicken. Aber das tu ich ja jetzt schon, sagt der Fischer.“
Heinrich Böll, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral 1963
Die Diskussion über das materielle Immer-Mehr als zentraler Orientierungspunkt unserer Wirtschaftspolitik hat nach der letzten großen Finanzkrise 2008/09 neuen Schwung bekommen. Einen wichtigen Anstoß dazu gab der damalige französische Präsident Sarkozy mit der Beauftragung einer Arbeitsgruppe um Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean Paul Fitoussi 2009. Diese Gruppe hat in leicht veränderter Zusammensetzung 2018 ihren Bericht „Jenseits des Bruttosozialprodukts„. veröffentlicht. In vielen westlichen Ländern gab es ähnliche Initiativen. Der Deutsche Bundestag hat 2010 eine Enquete-Kommission beauftragt über eine Reform des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und alternative Wohlstandsmaße nachzudenken. Große Einigkeit in all diesen Berichten herrscht darüber, dass das BIP-Wachstum allein als zentraler Indikator für gesellschaftliches Wohlbefinden nicht ausreicht, weil Zielkonflikte der ökonomischen mit der sozialen und ökologischen Dimension nicht adressiert werden. Wachstum der Volkswirtschaft muss allen zugute kommen und nicht nur einigen wenigen. Wachstum darf unsere Erde nicht kaputt machen: Klimakatastrophe, Artensterben, Wasserknappheit, Nitrat-Verseuchung, Plastikmüll etc. Nichtsdestotrotz wird das „goldene Kalb“, materieller Wohlstand bzw. das BIP als zentrales Maß für Wohlergehen in keinem dieser Berichte nennenswert in Frage gestellt. Das Narrativ bleibt im Kern das gleiche: Geld, materieller Wohlstand ist etwas an sich Gutes. Es muss nur gerecht verteilt und muß innerhalb der planetaren Grenzen erwirtschaftet werden. Es wird also mit anderen Worten nur gefragt: wie sollen oder müssen wir unsere Wirtschaft umbauen? Nicht, wie wollen wir unsere Wirtschaft umbauen?
Streben nach Glück und Wohlbefinden wird traditionell als individuelle Aufgabe in einem neutralen staatlichen Rahmen gesehen
Das liegt auch daran, dass die Frage, was wir kollektiv unter Glück und Lebenssinn verstehen wollen, nicht recht in unser Selbstverständnis einer liberalen Demokratie passt. Der Staat soll einen neutralen Rahmen bieten, in dem sich die Menschen in einer Vielfalt von Lebensentwürfen entfalten können. Die Erlangung von Glück und Lebenssinn werden innerhalb dieses Rahmens als individuelle Aufgabe gesehen, nicht als kollektive. Ein zentraler „neutraler Mechanismus“, mit dem wir unser Leben koordinieren ist dabei die Marktwirtschaft. Free to choose, jeder nach seiner Façon, jeder soll seine eigenen Wünsche und Träume verwirklichen. Dabei kümmern sich die Ökonomen nicht um die Substanz dieser Wünsche und auch nicht darum, ob die Wunscherfüllung auch zu der beabsichtigten Befriedigung führt. Der Nutzen, die Stärke der Wünsche, die Präferenzen werden im Marktgeschehen über relative Preise signalisiert. Überwiegt der Wunsch nach einem bestimmten knappen Gut, steigt sein Preis und setzt Anreize für mehr Angebot. Das wirtschaftliche Denken arbeitet dabei mit grob vereinfachten und wenig schmeichelhaften Annahmen über die menschliche Natur. Nämlich, dass Menschen vor allem durch die Aussicht auf immer mehr Geld motiviert werden und nach dem tieferen Sinn dessen, was sie tun, nicht fragen.
Nach der großen Depression vor knapp hundert Jahren begann man das BIP, die kollektive Fähigkeit, Wünsche zu erfüllen systematischer zu messen. Ursprünglich wollte man einen vollständigen Überblick über die Auslastungsschwankungen der Produktionskapazitäten eines Landes bekommen, um die Wirtschaft besser stabilisieren zu können. Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich die Menschen darauf konzentriert, die Produktionskapazitäten und damit das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Die Ökonomen entwickelten Modelle, die langfristiges Wachstum durch angebotsseitige Entwicklungen der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Technologie erklären konnten. Die andere Seite der Medaille der Konsum, oder der durch Ersparnisse aufgeschobene zukünftige Konsum dagegen interessierte die Ökonomen letztlich nur in ihrer Gesamtheit.
BIP-Wachstum zum Zwecke der Steigerung von Wunscherfüllung und kollektivem Wohlergehen ist die normative Rechtfertigung des Wachstums-Imperativs.
Wünsche werden in den Modellen als fixe, subjektiv vorgegebene Präferenzen gesehen, die man nicht weiter hinterfragen kann. Ihre immer bessere Erfüllung ist aber der eigentliche Zweck der Ökonomie. BIP-Wachstum zum Zwecke der Steigerung von Wunscherfüllung und kollektivem Wohlergehen ist die normative Rechtfertigung des Wachstums-Imperativs. Das war früher verständlich angesichts von häufig lebensbedrohenden Knappheiten jenseits einer kleinen Oberschicht und das ist in vielen Ländern des globalen Südens leider auch heute immer noch der Fall.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wachstum und höherem Wohlergehen muss bei uns neu gestellt werden
Aber bei uns sollte die Frage neu gestellt werde, ob das Immer-Mehr das zentrale politisches Ziel für die Steigerung des Wohlergehens der Bürger*innen sein sollte. Ich werde im folgenden argumentieren, dass das Bruttoinlandsprodukt, bzw. die Institutionen, die unsere Marktwirtschaft formen, immer weniger ihr Versprechen einlösen. So wie das BIP keinen Unterschied macht zwischen Ressourcen verschwenden und Ressourcen einsparen, macht es mittlerweile auch zugespitzt gesagt, keinen Unterschied, ob es uns glücklicher oder unglücklicher macht. Der Streit, ob grünes Wachstum angesichts von Rebound-Effekten je möglich sein wird, lässt sich möglicherweise auflösen, wenn wir die Wirtschaft nicht nur ökologisch umbauen, sondern gleichzeitig institutionell auf besseres Wohlbefinden statt auf Immer-Mehr ausrichten.
Mehr Wachstum führt ab einer Einkommensschwelle von ca 75.000 Dollar nicht zu mehr Glück und Wohlbefinden
Seit dem Aufsatz von Richard Easterlin 1974 „Does Economic Growth Improve the Human Lot?“ bezweifeln etliche empirische Studien den engen Zusammenhang zwischen Geld und Glück. Der Psychologe Daniel Kahnemann und der der Ökonom Angus Deaton, beide Nobelpreisträger für Ökonomie, haben beispielsweise in einer vielbeachteten Studie aus dem Jahr 2010 in den USA untersucht, inwieweit emotionale Erfahrungen wie Freude, Stress, Ärger, Trauer und Zuneigung vom Einkommen abhängen. Sie stellen fest, dass Schicksalsschläge wie Scheidung, Krankheit und Einsamkeit bei niedrigen Einkommen deutlich weniger gut verkraftet werden als bei höheren Einkommen, dass allerdings ab einem Einkommen von 75.000 Dollar, emotionales Wohlbefinden unabhängig ist vom materiellen Wohlstand. Generell finden sie in ihren Untersuchungen, dass gute Gesundheit und gute soziale Beziehungen deutlich bessere Indikatoren für emotionales Wohlbefinden sind als Geld.
Wie ist das zu erklären? Die Philosophie versucht die Frage, was Wohlbefinden, Sinn und Glück bedeutet, aus einer subjektiven und objektiven Sichtweise zu beantworten. Subjektives Glück entsteht durch Erfüllung von subjektiven Wünschen (Wunschtheorie). Diese Sichtweise ist enorm populär geworden, auch weil sie zu den Fundamenten der Ökonomie gehört. Subjektives Glück heißt aber auch, möglichst freudvoll und möglichst wenig leidvoll zu leben (Hedonismus). In einer objektiven Perspektive wird nach universellen Listen von Gütern und Fähigkeiten gesucht, die uns glücklich machen und Sinn stiften: z.B. Autonomie, soziale Beziehungen, Gesundheit, Bildung, Naturerleben (objektive Listentheorie). Wir werden sehen, dass sich die blinde Selbstverständlichkeit des Dogmas des „Immer-Mehr“ als in der Natur des Menschen verankert aus keiner dieser drei Perspektiven rechtfertigen lässt.
1. Falscher Mythos – BIP Wachstum führt zu mehr Wunscherfüllung
Wachstum geht oft auf Kosten von informierten, autonomen Wünschen
Nicht jeder Wunsch führt zum Glück. Ein Kind, dass auf die Straße laufen möchte, kennt die Gefahr nicht. Zum aufgeklärten Wünschen gehört offensichtlich auch Wissen und Bildung. Harry Frankfurt, ein amerikanischer Philosoph, unterscheidet in seinem Buch „Gründe der Liebe“ zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung. Wünsche zweiter Ordnung sind reflexive Wünsche, die sich nicht dem Handeln, sondern den Motiven zuordnen lassen. Wünsche, die sich auf die eigenen Wünsche beziehen- das heißt auf das wovon wir wollen, dass wir es wollen, und auf das wovon wir wollen, dass wir es nicht wollen: z.B. von einer Sucht loszukommen statt dem Suchtwunsch nachzugeben. Echte autonome Wünsche sind für ihn das, was uns wirklich am Herzen liegt. Liebe oder Leidenschaften, die unser Leben über einen längeren Zeitraum bestimmen: Liebe zu einer Person, den Kindern, dem Beruf, dem Ideal der Gerechtigkeit, dem Garten, etc. Echte autonome Wünsche beruhen nicht auf Gründen, sondern sie sind eine Quelle von Gründen. Sie sind an sich wertvoll und nicht Mittel zum Zweck. Sie sind das, was uns in unserem Wesen ausmacht.
Unsere Marktwirtschaft in der heutigen Form interessiert sich für die informierte Autonomie unser Wünsche nicht. Im Gegenteil, sie steht ihr im Zweifelsfall im Wege. Insofern muss man sich bei der möglichst effizienten Erfüllung von Wünschen die Frage stellen: Effizienz von was eigentlich? Herbert Marcuse hat bereits in den 60er Jahren in „der eindimensionale Mensch“ auf die Manipulation des Individuums, seine Instrumentalisierung durch die suggestive Kraft der Konsumwerbung hingewiesen. Wahre Wünsche können nur entstehen, wenn sie frei von Manipulation durch Reklame und Massenkultur sind. Henry George nutzt dafür in einer Monographie 2005 die Metapher der „Preference Pollution“. Er geht beispielsweise davon aus, dass in einer Welt mit Institutionen, die autonomen Wünschen mehr Raum gäbe, sich viele Menschen für deutlich mehr freie Zeit und Muße entscheiden würden. Zeitsouveränität und Zeitwohlstand statt Beschleunigung und Entfremdung. Gesunde Ernährung und Bewegung statt Übergewichtsepidemien in vielen Ländern durch endemische Bildschirmabhängigkeit, zu viele Antidepressiva, Alkohol, Süßigkeitenwerbung und Fast-Food-Verkaufsstellen. Ein finanziell sorgenfreies Leben, statt Schuldenfallen und Wucherkredite…
Mit der Digitalen Umwälzung bekommt die Frage der Wunschbildung eine neue Qualität. Google oder Facebook bezeichnet Shoshana Zuboff in ihrem Buch „surveillance capitalism“ als „Preference Future Märkte“. Dort werden Wunschprognosen an Unternehmen verkauft, auf der Basis von intimen individuellen Kenntnissen von Wünschen durch Speicherung des online Verhaltens von Milliarden Menschen. Es geht den Teilnehmern aber nicht nur darum, jeden möglichen individuellen Wunsch zu erkennen und mit Profit bedienen zu können. Es geht Ihnen darum, Wünsche für die eigenen Zwecke zu modifizieren, Wünsche zu beeinflussen und zu kontrollieren. Je mehr Manipulation, je schneller die Wunscherfüllung und je umfassender der Kampf um Aufmerksamkeit, um so mehr tritt autonome Reflexion in den Hintergrund und damit auch Glück und Wohlbefinden.
Die beiden Nobelpreisträger Robert Shiller und George Akerlof kritisieren in ihrem Buch „Manipulation und Täuschung in der freien Marktwirtschaft“, dass wir flächendeckend quer durch die Branchen dazu bewegt werden, überteuerte Produkte zu kaufen, die wir nicht brauchen und Tätigkeiten nachzugehen, in denen wir wenig Sinn finden. Sie werben für einen anderen Ethos in der Wirtschaftswelt und für mehr Integrität. Das Buch ist geschrieben für Geschäftsleute, die an diesem Zynismus leiden, für Politiker*innen, die schärfere Regeln einführen und auf deren Einhaltung drängen wollen, für Berufseinsteiger*innen, die Sinn in ihrem Beruf finden wollen und für Konsument*innen, die sich vor der Vielzahl von Tricks hüten müssen.
Marktwirtschaftliches Denken breitet sich auf Wünsche in Lebensbereichen aus, in denen Geld nichts zu suchen hat
Nicht jeder Wunsch sollte in Geld messbar und erreichbar sein. Michael Sandel, ein politischer Philosoph der Harvard Universität kritisiert in „Was man für Geld nicht kaufen kann – die moralischen Grenzen des Marktes“, dass Geld immer mehr all unsere Lebensbereiche durchdringt und wir uns von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft entwickeln, in der die Leute meinen, alle Wünsche mit Geld erfüllen zu können: Sex, Vertragsschwangerschaft, Organhandel, Kinderarbeit, einen Platz in einer Warteschlange, eine Hochzeitsrede.
In „Haben oder Sein“ hat Erich Fromm beireits 1976 festgestellt, dass Konsumismus immaterielle Werte verdrängt. Empirische Studien zeigen, dass durch Bezahlung von Geld intrinsische Motivation verdrängt werden kann: beispielsweise der Wunsch, Blut zu spenden, oder ein Buch zu lesen. Uri Gneezy und Aldo Rustichini haben gezeigt, dass Kinder weniger pünktlich abgeholt wurden, nachdem Geld als Strafzahlung eingeführt wurde und die Strafzahlung als Preis für Überstunden angesehen wurden.
Elisabeth Anderson fragt in „Values in Ethics and Economics“, wie es gelingen kann, wieder eine Vielfalt an Werten in unserer Gesellschaft Raum zu geben. Es geht also nicht darum, quantitativ und mit Geld zu messen, wie sehr wir etwas wertschätzen und wünschen, sondern vorgelagert mehr Vielfalt darin zu bekommen, wie wir etwas wertschätzen. Ähnliches fordert Michael Walzer in „Spheres of Justice“, in denen er darauf drängt, dass Geld nicht Werte und Beziehungen in allen Lebensbereichen dominieren darf. In Amerika beobachten wir auf die schlimmste Art und Weise wie stark Geld und Wahlkampfspenden politische Entscheidungen bestimmen und das Wohlergehen der Gesellschaft unter die Räder kommt.
Blindes Wachstum geht zu Lasten der Allgemeinheit – negative Externalitäten, Öffentliche Güter, Rent seeking.
Marktgeschehen im Sinne von Adam Smith unsichtbarer Hand wird oft assoziiert mit freiwilligem Austausch auf Augenhöhe, um eine win-win Situation zu erreichen. Häufig lässt sich aber mit einer win-lose Einstellung oder durch Ausnutzung von Machtpositionen noch viel einfacher Geld verdienen.
Gewinne einstreichen, Kosten und Risiken auf Dritte abwälzen- die Ökonomen nennen diese Schäden negative Externalitäten. Z.B .die Schädigung unserer Umwelt, Gesundheitsrisiken des Rauchens oder Finanzrisiken einer überdrehten Industrie. Umgekehrt, wird dem Wunsch nach öffentlichen Güter bei weitem nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Für Güter wie z.B. saubere Luft kann man keinen Preis verlangen, weil sie jeder und jede nutzen kann, die Sorge dafür muß aber jeder einzelne tragen. Bei prinzipiellen Knappheiten und institutionell geschaffenen Monopolen führt das Preissignal nicht zur erwünschten Erweiterung des Angebots. Diese Konstellationen bieten eine Steilvorlage für Rent Seeking– Einkommen ohne eigene Leistung. Eine Preissteigerung dieser Güter und damit BIP-Steigerung führt in keiner Weise zu mehr Wunscherfüllung, sondern nur zu Wertabschöpfung und Umverteilung.
Bodenspekulationen, Finanzialisierung, überzogene Intellectual Property Rechte, digtale Plattform-Monopole, Fossil-Industrie, Überdüngung in der Landwirtschaft. Unsere Wirtschaft ist geradezu dominiert von diesen Phänomenen.
Prinzipielle soziale Grenzen des Wachstums
Es gibt schließlich neben den oben genannten schädlichen Richtungen und Nebenwirkungen eines blinden Wachstums-Denkens, auch prinzipielle Grenzen. Und zwar nicht nur die ökologischen Grenzen, sondern auch soziale Grenzen.
Statusgüter zum Beispiel sind per Definition knapp, sonst verlieren sie ihren Wert als Statussymbol. Statuswünsche lassen sich sozial nicht aufsummieren. Vergleichswahn, die Jagd nach Statusgütern ist ein letztlich sinnloses Rattenrennen.
Auch für den Wunsch, auf die Arbeitskraft von anderen Menschen zuzugreifen gibt es eine soziale Grenze. Die Inanspruchnahme von Arbeit von mehr als einer Person (inklusive einem selbst) ist prinzipiell ein Wunsch, der nicht für alle erfüllbar ist. Auch dann nicht, wenn der materielle Überfluss bei uns allen beliebig hoch ist. Um so mehr müssen wir darauf achten, dass Bereiche wie Sorge- und Pflege-Arbeit, bei der es für Glück und Wohlbefinden zentral auf die Menschen ankommt (oft auf die Frauen) besser bezahlt und gesellschaftlich anerkannt werden. Wie wenig reflektiert BIP-Wachstum als Maß für menschliches Wohlbefinden geworden ist, sieht man daran, dass die Bezahlung von guter und angemessener Daseinsfürsorge als Wachstums- und wettbewerbsschädigende Lohnnebenkosten oder unproduktive Konsumausgaben des Staates geframt werden.
Schließlich gibt es auch für die Nutzung von physischen Güter soziale Grenzen. Grund und Boden beispielsweise ist unvermehrbar, unverzichtbar und knapp. Preissprünge von Grund und Boden werden als BIP Wachstum gezählt, ohne dass die Menge und damit das Wohlbefinden wächst. Im Gegenteil, durch Bodenspekulationen werden Menschen aus der Stadt getrieben (Siehe dazu auch hier) und müssen mit Autos, die sie sonst möglicherweise gar nicht brauchen würden, zu ihrer Arbeit pendeln. In vielen Studien wird die Pendelzeit als die unangenehmste Zeit des Tages empfunden, das BIP aber „freut“ sich.
2. Glücksfähigkeiten fördern: Autonomie, Sozialität, Gesundheit, Bildung und Zugang zu intakter Natur
Objektive Listentheorien von Aristoteles bis Martin Seligmann
Viele Denker, halten generell die subjektivistische Position und die Wunschtheorie nicht für den richtigen Zugang zum Glücksverständnis. Aus ihrer Sicht geht es darum, nach objektiven Faktoren zu suchen, die für das Wohlergehen der Menschen verantwortlich sind. Aristoteles und das gesamte Altertum suchten beispielsweise „Eudaimonia„, das Gute im Wesenskern des menschlichen Wesens, im Gebrauch der Vernunft, der philosophischen Kontemplation. Hannah Arendt warb dafür, sich aus dem Hamsterrad aus Arbeit und Konsum zu befreien, das nur dem nackten Überleben dient. In ihrem Buch „vita activa“ sieht sie den Wesenskern des Menschen im politischen Handeln verwirklicht. Ein gutes Leben besteht für sie im öffentlichen Sprechen und Handeln so wie es die alten Griechen in der Polis praktiziert haben. Jean Jacques Rousseau glaubte, dass jeder von Geburt mit einem besonderen Wesenskern ausgestattet sei, mit einem Charakter und Talenten, die sie oder er im Laufe ihres oder seines Lebens perfektionieren sollte. Richard Arnesson, ein amerikanischer politischer Philosoph erstellte eine Liste, die ein gutes Leben ausmachen:
– Freudvolle Erfahrungen und speziell Freude an Großartigem,
Richard Arnesson in Liberal Neutrality on the Good: An Autopsy
– Das Erreichen vernünftiger Lebensziele,
– Freundschafts- und Liebesbeziehungen,
– Intellektuelle und kulturelle Errungenschaften,
– Sinnvolle Arbeit,
– Sportliche Exzellenz,
– Autonomie,
– Systematisches Verständnis der kausalen Struktur der Welt.
Martin Seligmann, der amerikanische Begründer der positiven Psychologie hat mit dem PERMA Modell ein nach seiner Aussage empirisch belegtes Rezeptbuch zum Erreichen des guten Lebens erstellt: P wie positive Emotionen, E wie Engagement, R wie Relationships, positive Beziehungen, M wie Meaning (Bedeutung, Sinn, Sinnhaftigkeit), A wie Achievement/Accomplishment (Leistung/Zielerreichung). Jeder sollte sich klar werden über seine Signaturstärken und sich entlang dieser Stärken entfalten. Bei Tätigkeiten, die wir mögen und gut können, erleben wir dann ein von dem amerikanischen Psychologen Mihály Csíkszentmihályi 1975 zuerst so gennantes flow-Gefühl. Wir verlieren das Zeitgefühl und sind ganz bei uns. Wenn wir diese Stärken schließlich in den Dienst von etwas Höherem stellen, erleben wir unser Leben als sinnvoll. Bei Seligmann verschwimmt allerdings manchmal die Grenze zwischen empirischer und evaluativer These. Kann etwa ein Leben, das nicht in den Dienst von etwas Höherem gestellt wird, nicht sinnvoll sein?
Fähigkeiten Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum
Amartya Sen, ein indisch-amerikanischer Philosoph, Ökonom und Nobelpreisträger wiederum ist grundsätzlich skeptisch in Bezug auf Glücksmessung, weil sich aus seiner Sicht die Menschen in ihrem Glücksempfinden an die Lebensumstände anpassen.
„A Person who is ill-fed, undernourished, unsheltered and ill can still be high up in the scale of happiness or desire fulfillment, if he or she has learned to have ‚realistic desires‘ and to take pleasures in small mercies. The central issue is not the significance of happiness, but the alleged insignificance of everything else“
Amartya Sen, The idea of justice 2009
Er wendet sich gegen den materiellen Güterfetischismus aber auch gegen den staatlichen Fokus auf subjektives Wohlergehen und stellt stattdessen die effektive Freiheit – die Fähigkeit – bestimmte Funktionsweisen zu erreichen in den Mittelpunkt. Fasten im Unterschied zum Hungern, kann man nur, wenn man auch essen könnte. Diesen abstrakten Ansatz hat die Philosophin und und seine frühere Partnerin Martha Nussbaum konkreter ausgeführt und Listen von Grundfähigkeiten erstellt, die ein gutes Leben ermöglichen. Eine zentrale Rolle nehmen in dieser Liste Autonomie, Sozialität und Zugang zu intakter Natur ein. Diese Liste umfasst darüberhinaus körperlichen Grundfähigkeiten wie etwa sich guter Gesundheit zu erfreuen, sich ernähren zu können, eine angemessene Unterkunft zu haben, sich von einem an einen anderen Ort bewegen zu können, in der frühkindlichen Entwicklung Vertrauen und Bindungsfähigeit zu lernen, lachen zu können, die 5 Sinne benutzen zu können, denken und urteilen zu können und die Möglichkeit sexueller Befriedigung zu haben.
Mir erscheint der Fähigkeiten-Ansatz der tragfähigste Weg zu sein, objektive Faktoren für Wohlbefinden für die Gesellschaft als Ganzes zu verallgemeinern. Kaum jemand würde der Liste von Martha Nussbaum vernünftigerweise widersprechen. Das kann man für die objektiven Listen-Theorien von Aristoteles bis Martin Seligmann nicht behaupten.
Der pakistanische Ökonom Mahbub ul Haq hat auf Basis des Fähigkeiten Ansatzes den menschlichen Entwicklungs-Index (HDI) entwickelt, der seit 1990 jährlich weltweit von den Vereinten Nationen veröffentlicht wird. Der Index umfasst drei Bereiche: die Lebenserwartung als Maß für Gesundheit, Hygienevorsorge und Ernährung, sowie Bildungsniveau und Bruttonationaleinkommen je Bürger*in als Maß für einen angemessenen Leberndsstandard sowie öffentliche und soziale Teilhabe. Das pro Kopf Bruttonationaleinkommen fließt in diesen Index bis zu einem pro Kopf Einkommen von 75.000 Dollar ein, Werte darüber werden als nicht relevant für das Wohlergehen gewertet.
3. Selbstgenügsamkeit als Weg zum Glück, zurück zu den Wurzeln des hedonistischen Denkens
Hedonistisches Leben bedeutet: Man sollte sein Leben so ausrichten, dass man darin möglichst viel Freude und möglichst wenig Leid erfährt – dass diese Bilanz also möglichst positiv ist. Der Hedonismus hat allerdings bei uns als Lebensart durch unsere christliche Sozialethik keinen besonders guten Ruf und wird oft mit der Huldigung des unbeschränkten Sinnengenusses verbunden. Papst Johannes Paul hat beispielsweise kritisiert, dass der Mensch sich „vorwiegend um den Genuss kümmert“, statt „seine Triebe und Leidenschaften zu beherrschen und sie im Gehorsam gegenüber der Wahrheit unterzuordnen“. Dabei hatte Epikur den Hedonismus mit einem Plädoyer für Selbstgenügsamkeit begründet:
„Die Gewöhnung an die einfachen Lebensweisen ohne Luxus trägt zur Gesundheit bei, macht den Menschen zielsicher in den notwendigen Verrichtungen des Lebens, lässt uns in einer besseren Verfassung, wenn wir in Abständen uns dem Luxus zuwenden, und macht uns furchtlos gegenüber dem Zufall.“
Epikur Brief an Menoikeus
Der Hedonismus als Konzeption des guten Lebens hat in der Diskussion über das Dogma des Wirtschaftswachstums ein unterschätztes Potential. Er fragt, ob die Erfüllung eines Konsum-Wunsches auch tatsächlich Freude bereitet, oder auch, ob er die größere Freude an etwas anderem verhindert. Der Aufruf zum weniger wird damit zu einer Motivation und nicht zu einem moralisch notwendigem Opfer. In gewisser Weise hat Epikur Hedonismus als ein Rezept gegen die sogenannte hedonistische Tretmühle verstanden: Gegen die all zu schnelle Gewöhnung an das Erreichte, der Gefahr im ständigen Kaufrausch und Status-Streben gegenüber anderen in einem sinnlosen Hamsterrad gefangen und von Verlustängsten geplagt zu sein.
Die von Sarkozy eingesetzte Expertenkommission und ebenfalls die Nachfolgegruppe HLEG (high level expert group) hat sich in ihrem Bericht vom November 2018 wiederholt stark gemacht für einen Glücksindikator. Er sollte auf die verschiedenen Facetten Bezug nehmen. Die emotionale Glückserfahrung von Freude und Leid sowie die Zufriedenheit mit dem Leben als ganzes. Hinzu kommt die Messung von Vertrauen in andere und öffentliche Institutionen sowie das subjektive Erleben von ökonomischer Unsicherheit. Die Expertengruppe hat nachgewiesen, dass zum Beispiel kurz vor Ausbruch des arabischen Frühlings diese Werte sehr negativ waren, oder auch in der Zeit nach der letzten Finanzkrise, als sich das Sozialprodukt weit schneller erholt hat als die Glücksindikatoren. Diese Perspektive kann die populistische Gegenbewegung von Trump und Co. erklären helfen. Mir scheint dieser Weg auch deshalb wichtig, weil es das Glücksversprechen des freien Marktes quercheckt, indem es die Menschen direkt nach ihrer Zufriedenheit befragt.
Fazit: Was tun?
Wir sollten das BIP-Wachstum nicht weiter zum zentralen Maß für Wohlergehen und zum Orientierungspunkt unserer (Wirtschafts-) Politik machen. Es ist nicht nur farbenblind bezüglich des Umgangs mit der Natur. Es hat sich auch weit entfernt vom ursprünglichen Zweck des Wirtschaftens, unser Wohlergehen zu verbessern. Das heißt nicht, dass wir die Menschheit auf dem heutigen Stand der Wissenschaft und Technik einfrieren oder gar das Rad zurückdrehen sollten.
Wir müssen den Maschinenraum der Institutionen unserer Marktwirtschaft reparieren. Räder, die den Ressourcenverbrauch erhöhen, müssen wir stillstellen, solche, die Ressourcen einsparen, antreiben. Darüberhinaus müssen wir Ethos und Spielregeln wieder stärker auf unser Wohlergehen ausrichten. Wir müssen autonomen und informierten Wünschen Entfaltungsmöglichkeiten geben und Manipulation und täuschenden Praktiken entgegentreten. Wir müssen verhindern, dass Nutzen und das Glück von wenigen privatisiert wird auf Kosten und zum Unglück von vielen. Schließlich müssen wir die Vielfalt von Lebensbereichen schützen und verhindern, dass wir von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft verkommen, in der einzig und allein Geld das Sagen hat.
Subjektivem Empfinden von Glück, Sinn, ökonomischer Unsicherheit, Zuversicht und Vertrauen, sollten wir auch in den Messgrößen höheren Stellenwert einräumen. Die Entwicklung von objektiven Fähigkeiten aller Menschen wie Autonomie, Gesundheit, Bildung, Sozialität und Zugang zu intakter Natur sollte einen höheren Stellenwert haben als blindes Wachstum. Und wir müssen die Resilienz der Menschen individuell und unserer Gesellschaft insgesamt stärken.
All dies verbessert stetig unser Wohlergehen, kann jedoch das BIP auf Achterbahn schicken. Aber das sollte uns nicht stören.
Schönen Gruß aus Berlin